I. Kapitel
Es war nicht zu übersehen, dass
dieser ältere, gut
angezogene Herr, über den
großzügigen Richterspruch
erleichtert war, der seinem
Schützling
Carolina galt, die weder von der
Anwesenheit
dieses Mannes beim Prozess, noch
von seiner Teilhabe
an ihrem Leben auch nur die
geringste
Ahnung hatte.
„Im Namen des Volkes verurteile
ich Sie zu fünfzig
Stunden gemeinnütziger Arbeit…“
Ungefähr diese
Worte hatte der Richter zu ihr
gesagt, bevor sie in
der Suppenküche anfing, ihre
Sozialstunden
abzuarbeiten. […]
„Ich war mal früher sehr reich,
mein Kind.“
plapperte der alte Mann die ganze
Zeit vor sich her,
auf dem Weg von der Essensausgabe
bis zum Tisch.
Sein Geschwätz schien er wirklich
zu glauben und
wiederholte es daher immer
wieder. Um dem ein
Ende zu machen und weil dieser
Opa sie nervte,
ging sie ihn deutlich
an.
„Ist ja gut, Herr Millionär. Ist
gut. Ich habe es verstanden.
Aber jetzt gibt es Essen. Aus der
Suppenküche.
Sie wissen, wo wir hier
sind?“
Das war ein Test. Vielleicht
wusste der alte Mann ja
überhaupt nicht mehr, wo er sich
befand? Vielleicht
war er schon debil und lebte nur
noch in seiner
Vergangenheit? Die anderen hatten
sie vor ihm
gewarnt. Er würde die ganze Zeit
von seinem
Reichtum aus alten Zeiten
erzählen. Deshalb
nannten sie ihn auch den
Millionär. […]
Im Grunde war die Arbeit hier
einfach. Den Obdachlosen
und anderen elenden Gestalten
Essen
ausgeben und sich um ihre fünf
Spezis kümmern.
Das war in Ordnung. Schon nach
drei Tagen freute
sie sich sogar darauf. Die
anderen im Heim hatten
sie dafür ausgelacht. Aber das
war ihr egal. Ihr
scharfer Verstand hatte endlich
über ihre Hormone
gesiegt und ihr klar gemacht,
dass die lächerliche
Verurteilung zu Sozialstunden das
Beste war, was
ihr passieren konnte. Ein
Aufenthalt im Jugendknast
hätte sie wirklich verdorben.
Aber so hatte sie
Glück gehabt und eine Chance auf
ein voll
spießiges Leben, wie es ihre
Zimmerkameradin
ausdrückte. Denn sie wollte
studieren und träumte
schon seit ihren Kindertagen von
einem Luxusleben
im Ausland.
„Der Typ war früher einmal
Professor.“ erzählte ihr
Günter, der
Sozialarbeiter.
„Wer? – der Millionär? Der war
Professor?“
„Ja, er war Professor für Physik
an der Uni hier.
Und tatsächlich war er mehrfacher
Millionär. Das
kannst du sogar nachlesen. Der
Professor war nämlich
berühmt. Über ihn stand mehrmals
etwas in der
Zeitung. Vielleicht finde ich
noch einen alten Ausschnitt.
Den bringe ich dir dann morgen
mit.“
„Ja, vielen Dank. Dann bis
morgen.“ Und schon
wieder war ein Tag soziale Arbeit
vorüber.
¨¨¨
Wie versprochen brachte Günter am
nächsten Tag
einige vergilbte
Zeitungsausschnitte mit.
„Du weißt schon, dass wir im
Internetzeitalter
leben?“ flaxte
Carolina.
„Ja, aber das hier ist echt. Echt
alt. Und das findest
du nirgends im Internet. Denn der
Professor selbst
hat dafür gesorgt, dass alles
über ihn Gedruckte
verschwindet. Und das hier ist
von meiner Mutter.
Die hat schön säuberlich alle
Berichte vom
Professor aufgehoben, weil sie
ihn damals so
verehrte, wie sie immer
sagte.“
„Aha. Von deiner Mutter ist das.
Von welcher Zeit
redest du?“
Günter redete nicht mehr, sondern
schlug als Antwort
die mitgebrachte Zeitung auf, aus
der die besagten
Zeitungsausschnitte
rutschten.
„Hier – alles aus den fünfziger
Jahren. Schau hier,
so hat der Professor früher
einmal ausgesehen.“
„Ich kann deine Mutter verstehen.
Der sieht ja echt
gut aus. auf dem Foto.. Ein
schöner Mann war er –
damals.“ Intensiv betrachtete
Carolina das Bild von
dem ehemaligen Physikprofessor,
der nun tatterig
und aufgebraucht als Obdachloser
auf seinen Tod
wartete. Ob er sein Leben
genossen hatte?
„Hier kannst du alles über seine
Entdeckung nachlesen.
Aber versprich mir, nicht mit ihm
darüber zu
reden.“
„Wieso denn?“
„Weil er dann furchtbar wütend
wird. Der hat uns,
kurz bevor du zu uns gekommen
bist, alles auseinander
genommen und aggressiv um sich
geschlagen.
Wir hatten Mühe, ihn zu bändigen.
Also
lass dich von ihm nicht täuschen.
Auch wenn er so
dünn und zerbrechlich aussieht.
Der Typ hat echt
Kräfte, wenn man ihn
herausfordert.“
„Also ich soll ihn nicht
ansprechen. Worüber darf
ich nicht sprechen? Ich verstehe
nicht, was du
meinst.“
„Über die blauen
Äpfel.“
„Was? Blaue Äpfel? Was soll das
denn sein?“
„Das ist seine Entdeckung
gewesen. Er hat einen
Apfelbaum gezüchtet, der blaue
Äpfel dran hatte.
Und mit dieser Sache ist er
tierisch reich
geworden.“
„Mit den blauen Äpfeln meinst
du?“
„Ja, genau damit. Er hat die
Entdeckung an eine
große Lebensmittelfirma verkauft
und anschließend
von seinem Geld gelebt. Bis
irgendwann nichts
mehr da war. Und wie er heute
lebt, weißt du ja.“
„Mann, ist das traurig. Der arme
Professor. Er tut
mir echt leid.“
„Er muss dir nicht leid tun. Er
hatte genügend Geld,
schöne Frauen, ein Luxusleben. Er
hat gut gelebt.
Ist doch in Ordnung so. Jetzt ist
er alt. Was braucht
der Mensch da noch?“
„Das ist doch albern. Auch alte
Menschen wollen in
Würde leben und sterben.
Obdachlos zu sein, das
hat er sich bestimmt nicht für
sein Alter vorgenommen.“
„Dann würde er jetzt irgendwo in
einem vornehmen
teuren Seniorenheim leben. Da
würde er es auch
nicht unbedingt besser haben. Die
würden ihn zwar
mehr betüdeln, aber auch nur um
sein Geld bringen.
Mehr als essen und schlafen kann
er sowieso nicht.
Wieviel Kleidung brauchst du noch
als alter
Mensch?“
„Ich finde deine Ansichten
ziemlich schräg. Du
kannst doch gar nicht wissen, ob
das hier das Beste
für ihn ist. Hast du ihn denn
jemals danach gefragt?“
„Nach seinem Wutausbruch werde
ich den Typen
bestimmt nicht noch mal auf sein
altes Leben
ansprechen. Glaube mir, es ist
alles gut so, wie es
ist. Aber jetzt sollten wir
unseren Job machen. Die
anderen warten schon.“
[…]
„Ich war mal früher sehr reich,
mein Kind.“ wiederholte
er nun schon zum fünften
Mal.
„Ja, ich weiß. Und damals sahen
Sie auch richtig
gut aus.“ plapperte Carolina so
daher, um mit dem
Millionär ins Gespräch zu kommen.
Für sie war es
eigentlich der Professor, sie
nannte ihn nur noch
den Professor. Aber weil Günter
und die anderen
ihn den Millionär nannten, sprach
sie ihn auch
weiter so an.
„Woher weißt du, wie ich früher
ausgesehen habe?“
Carolina zuckte zusammen. Was
sollte sie jetzt
sagen? Dass Günter ihr alte
Zeitungsausschnitte
gezeigt hatte? Er würde wütend
werden und … sie
wagte es gar nicht, weiter
darüber nachzudenken.
Der Millionär schaute sie fragend
an. Er würde
nicht locker lassen und keine
Ruhe geben, solange
sie ihm nicht antwortete. Also
gab sie ihm eine
Antwort. Hoffentlich war es das,
was er hören
wollte.
„Sie erinnern mich an meinen Opa.
Der sah früher
auch sehr gut aus und später, als
er alt war, so wie
Sie.“ Dann machte sie eine Pause
und hoffte, er
würde mit dieser Antwort
zufrieden sein, so dass sie
sich nicht weiter erklären
müsste.
„Wie dein Opa. Aha. Dann weißt du
ja, dass ich
verdammt gut aussah. Früher. Ich
sah nicht nur gut
aus, ich hatte auch verdammt viel
Geld, früher. Ja,
ja, so vergeht die Zeit. Ja, so
schnell vergeht die
Zeit.“
„Nun sollten Sie aber etwas
essen. Es wird sonst
kalt. Am besten erzählen Sie mir
nach dem Essen
etwas von früher. Ich habe Zeit
und kann solange
bei Ihnen sitzen bleiben, wenn
das für Sie in
Ordnung ist.“
„Ja, ja, bleib ruhig da, Mädel,
bleib bei mir sitzen.“
Carolina wusste nicht, ob der
Millionär bereits
dement war oder noch klar bei
Verstand und einfach
nur alt und tatterig. Weil sie
außer Günters
Informationen nichts über ihn
herausgefunden hatte,
musste sie sich erst einmal alles
anhören, was er
erzählte. Wenn er ihr einen Bären
aufbinden würde,
wäre es zumindest eine nette
Geschichte. Wenn sie
spannend und wirklich gut wäre,
würde sie sie
aufschreiben und ein Buch darüber
herausbringen.
Vielleicht wäre das ihr Ticket
zum späteren
Luxusleben, von dem sie schon als
Kind geträumt
hatte. Man sollte keine
Gelegenheit auslassen, hatte
ihre Mutter immer gesagt. Und man
solle seinen
Träumen eine Chance geben. Die
Meisten würden
zu schnell aufgeben und hätten
kein klares Ziel vor
Augen. Davor solle sie sich
hüten. […]
„So, Mädel, ich habe alles
aufgegessen.“ dabei hob
er den Teller vom Tablett, um von
Carolina gelobt
zu werden, wie ein kleines Kind,
das brav seinen
Teller leer gegessen hatte. Das
verunsicherte sie
noch mehr.
„So und nun erzähle ich dir von
meiner Entdeckung,
die mich verdammt reich gemacht
hat.
Willst du das hören, ja?“
Carolina nickte.
„Kennst du die Geschichte von
Orpheus und
Eurydike?“ Carolina schaute den
Millionär erstaunt
an. Die beiden Namen hatte sie
schon einmal
gehört. In der Schule. Das waren
irgendwelche
Gestalten aus einer griechischen
Sage. Wie genau
die Geschichte über die beiden
ging, wusste sie
nicht. Nicht mehr. Das war in der
Zeit, wo sie die
Schule nur als notwendiges Übel
betrachtet hatte.
Da war sie gerade fünfzehn Jahre
alt geworden und
ganz schlecht drauf. Damals war
Klauen, Mobben,
Ablästern und Erpressen von
Mitschülern ihr
Tagesgeschäft. So war sie auch
schließlich hier
gelandet. Wegen ihrer Karriere
als Kleinkriminelle.
Sozialstunden bekam man nicht
fürs Bravsein
aufgebrummt.
„Nein. Die kenne ich nicht. Ist
das wichtig?“ fragte
sie diesen alten
Mann.
„Ich finde schon, Mädel. Ich
finde schon. Denn die
Geschichte zeigt, wie wichtig
Vertrauen ist. Denn
man bekommt nicht immer eine
zweite Chance. Die
meisten Menschen haben zu wenig
Vertrauen. Sie
trauen weder ihrem Kopf noch
ihrem Bauchgefühl.
Und anderen Menschen schon mal
gar nicht. Hast
du verstanden, Kleine? Du musst
mehr Vertrauen
haben und auf dein Gefühl hören.
Denn manchmal
gibt es im Leben einen kurzen
Augenblick, in dem
zu wenig Vertrauen alles
zerstört, was einem lieb
und teuer ist. Aber nun genug
davon. Ich werde dir
jetzt die Geschichte erzählen.
Die Geschichte von
Orpheus und Eurydike.
[…]
„Und was hat das jetzt mit Ihrer
Entdeckung zu
tun?“ Der Professor antwortete
nicht. Er war mit
seinen Gedanken irgendwo anders.
Es schien für
einen Augenblick, als hätte er
sie vergessen. Sie
spürte, dass der Professor
Schuldgefühle hatte. Aber
warum? Und was hatte das mit ihr
zu tun? Und was
sollte diese Sache mit dem
Vertrauen? Sie war
irritiert. Dann machte sie eine
Kopfbewegung, die
ihn zum Weitererzählen drängen
sollte. Warum
musste sie diesem Typ nur alles
aus der Nase
ziehen?
„Damals war ich Professor an der
Uni, weißt du?
Ich war der Leiter des
Physiklabors, an dem wir die
Fallgewichte von Molekülen
erforschten. Das
kennst du bestimmt aus der
Schule. Isaac Newton,
ein englischer Physiker, saß
unter einem Apfelbaum
und sinnierte über die
gegenseitige Anziehung von
Massen, als ihm ein Apfel auf den
Kopf fiel. So
entdeckte er die Schwerkraft. Er
wollte sie damals
erstmalig berechnen. Später ist
nach ihm das
sogenannte Newtonmeter benannt
worden. Es ist
eine Maßeinheit für die Kraft.
Schon mal davon
gehört –
Newtonmeter?
Carolina schwirrte der Kopf. Sie
saß hier neben
einem alten Physikprofessor in
der Suppenküche
des Obdachlosenheims, hatte aber
den Eindruck in
einer Physikvorlesung zu sitzen.
Egal, wie verwirrt
der Alte bisher auf sie gewirkt
haben mag, was
seinen Beruf betraf, hatte er
alles noch genau im
Kopf. Wenn er von seinem
Lieblingsthema, der
Physik erzählte, hatte man den
Eindruck, er wäre
wieder der junge, gut aussehende
Mann von damals.
Damit er nicht weiter von Dingen
erzählte, die sie
nicht verstand und wofür sie auch
nicht das
geringste Interesse hatte, musste
sie ihn endlich in
die richtige Richtung drängen.
Sie dachte zwar noch
an Günters Warnung, hatte aber
keine Lust mehr
noch länger zu warten, bis er
endlich auf seine
Entdeckung der blauen Äpfel käme.
[…]
Der Professor schaute Carolina
verschmitzt an.
„Du hast kein Wort verstanden,
von dem was ich
dir gerade erzählt
habe?“
„Naja, Ihre Forschungsergebnisse
waren wichtig,
um einen besseren Motor zu
bauen.“
„Ja, so kann man es
sagen.“
„Und wie kommt man von einem
Motor und Benzin
auf die Entdeckung von blauen
Äpfeln? Ich
verstehe den Zusammenhang da noch
nicht.“
„Da gibt es auch keinen
Zusammenhang. Ich wollte
dir nur erklären, woran wir
damals gearbeitet
haben.“
„An schnelleren
Motoren.“
„Das ist wirklich sehr grob
umschrieben. Aber ja.
Stimmt so. Und nun erzähle ich
dir, was damals
wirklich passiert ist. Das habe
ich noch niemandem
bisher erzählt. Also fühle dich
geehrt. Aufgepasst.
Ein Kollege von mir aß gerade
einen Apfel, als uns
ein anderer Kollege aufgeregt ins
Labor rief. Wir
saßen im Büro und brüteten über
den Zahlen der
Messreihe. Der Kollege hatte den
Apfel schon fast
aufgegessen und hielt den
Apfelbutzen in der Hand.
Auf dem Weg zum Labor war kein
Mülleimer und
er musste den Apfelrest so lange
festhalten. Im
Labor legte er ihn auf ein freies
Stück von diesem
langen Experimentiertisch und
vergaß, ihn später
wieder mitzunehmen. Ich blieb
noch länger dort
und vergaß den Apfelrest aber
auch. Irgendwann
später hantierten wir wieder mit
den Benzolen
herum und ein Kollege
verschüttete beim Umfüllen
von einem Reagenzglas in ein
anderes ein paar
Tropfen Benzol. Der Apfelrest
saugte sich mit dem
Benzol voll. Ich sah die
Schererei und wollte ihn
entsorgen. Das war aber nicht so
einfach, weil
Benzol brennbar ist und ein voll
gesogener
Apfelbutzen nicht einfach in den
Labormülleimer
geworfen werden durfte. Also nahm
ich den Apfel,
umwickelte ihn mit mehreren
Saugtüchern und
stopfte ihn in meinen
Laborkittel. Im Büro wollte
ich ihn dann in den Mülleimer
werfen. Tatsächlich
hatte ich ihn aber vergessen.
Damals nahmen wir
noch unsere Laborkittel mit nach
Hause. Was dann
genau geschehen war, ließ sich
nur im Nachhinein
rekonstruieren. Offenbar hat
meine Mutter den
Laborkittel waschen wollen und
hat das Päckchen
in meiner Tasche gefunden. Und
wie Mütter so
sind, hat sie ihn ausgewickelt,
festgestellt, dass es
ein Apfelbutzen war und ihn mit
einem gezielten
Wurf nach draußen in Nachbars
Garten befördert.
Meine Mutter wusste von dem
Komposthaufen dort
und wollte uns einen Gefallen
tun. Etwas Böses
hatte sie sich auf gar keinen
Fall gedacht.
Wir beide dachten dann lange Zeit
nicht mehr an
diesen Apfelrest. Es wurde
Herbst, dann Winter,
dann kam der Frühling und aus dem
Komposthaufen
wuchs ein kleiner Baum. Unser
Nachbar
hatte seinen Komposthaufen stets
im Blick und
entfernte das kleine junge
Bäumchen unverzüglich.
Er rupfte es raus und warf es in
eine Ecke seines
Gartens. Normalerweise wäre der
Schössling eingegangen,
hätte ich diese Situation nicht
selbst
miterlebt. Ich hatte Mitleid und
war danach die
nächsten Wochen und Monate damit
beschäftigt,
über den Gartenzaun hinweg den
jungen Baum in
Nachbars Gartenecke großzuziehen.
Es wurde ein
stattlicher mittelgroßer
Apfelbaum. Erst als er ausgewachsen
war, erinnerte ich mich wieder an
den
benzolübergossenen Apfelbutzen.
Sag mal, Mädel,
kennst du dich mit Obstbäumen
aus?“
„Nein, warum?“
„Ein Apfelbaum alleine trägt
keine Früchte. Und
vor allem nicht in den ersten
Jahren. Aber das
wusste ich damals alles nicht.
Ich bin ja auch kein
Gärtner. Auf jeden Fall hatte es
das Schicksal gut
mit mir gemeint, und in der
Nachbarschaft stand
schon seit Jahren ein alter,
knorriger Apfelbaum.
Den kannte ich, hatte mir aber
nie darüber Gedanken
gemacht, wie die Äpfel an einen
Apfelbaum
gelangen. Nach sieben langen
Jahren des Wartens,
bildeten sich endlich aus den
Blüten kleine
Apfelknospen. Die Befruchtung
hatte der alte
Apfelbaum übernommen. Ja, und das
Ende kennst
du ja bereits. Eines Morgens bin
ich aufgewacht
und am Apfelbaum hing ein
knalligblauer Apfel.
Schön rund und knackig, wie die
Backen eines
pausbäckigen Jungen. Er lachte
mich an und ich
glaubte zu
halluzinieren.“
„Der blaue Apfel.“
„Genau. Ich hatte ihn entdeckt.
Ich musste einfach
nur aus meinem Fenster schauen.
Der Nachbar
konnte ihn nicht sehen. Dafür
hätte er in seinen
Garten bis in die hinterste Ecke
gehen müssen. Der
blaue Apfel wuchs genau vor
meinem Fenster. Die
anderen kleinen Früchte waren
noch grün. Mein
erster Gedanke war, ob sie wohl
auch blau werden
würden?“
„Und, wurden sie?“
Der Professor verstummte für
einen langen Augenblick.
Er genoss es sichtlich, dass er
nun Carolinas
volle Aufmerksamkeit
hatte.
„Jetzt erzählen Sie schon
endlich! Wurden die
anderen Äpfel auch
blau?“
„Ja, alle. Am Ende hatte ich
einen Apfelbaum voll
mit blauen Äpfel vor meinem
Fenster stehen.“
„Whow. Geile Geschichte. Und was
haben Sie dann
mit den blauen Äpfeln gemacht?
Haben Sie mal
einen davon gegessen? Waren sie
überhaupt
essbar?“
„Nun mal langsam. Eine Frage nach
der anderen.
Also als erstes ging ich
weiterhin wie jeden Tag zur
Arbeit. Den ersten blauen Apfel
habe ich fotografiert,
gleich nachdem ich ihn entdeckt
hatte.
Dann wartete ich bis auch aus den
anderen Äpfeln
blaue Früchte wurden. Das konnte
ich ja vorher
nicht wissen. Ich hatte also
gehofft, dass die andern
Äpfel auch blau wurden. Und Gott
sei Dank taten
sie das auch. Dann, als alle reif
waren, schlich ich
mich im Dunkeln auf das
Nachbargrundstück und
holte mit einer Taschenlampe und
einer Leiter
bewaffnet, alle Äpfel vom Baum.
Meiner Mutter
war der Blick aus meinem Fenster
nicht entgangen.
Sie half mir die geernteten
Früchte, die ich ihr vom
Baum herunterwarf,
aufzusammeln.
Am nächsten Morgen ist das
berühmte Foto von
diesem Korb voll mit den blauen
Äpfeln entstanden.
Das war 1959. Daran erinnere ich
mich noch ganz
genau. Ich hatte zwei Fotos
gemacht, die dann auch
später in der Zeitung gedruckt
wurden. Eines von
dem blauen Apfel, wie er noch am
Baum hängt, so
wie ich ihn aus meinem Fenster
sehen konnte und
das spätere Foto von dem Korb
voller blauer Äpfel.
Ich erinnere mich sogar noch
genau an den Tag, als
ich meinen Film im Fotogeschäft
abgegeben hatte.
Tja, wohl war. Daran erinnere ich
mich. Ist wirklich
schon sehr lange her.“ Er schien
gemischte Gefühle
an diese vergangene Zeit zu
haben. Erst als ihn
Carolina durch ihre weiteren
Fragen aus der
Erinnerung holte, entspannten
sich seine
Gesichtszüge. „Und dann? Was
haben Sie mit den
vielen Äpfeln
gemacht?“
„Ich habe sie
untersucht.“
„Wie untersucht? Haben Sie auch
mal einen gegessen?“
„Nein. Keinen einzigen. Ich hatte
Angst. Ich wusste
ja, woher die blaue Farbe
gekommen war. Von dem
Benzol. Da ich wusste, dass es
giftig war, hatte ich
keine große Lust, einen
vergifteten Apfel zu essen.
Das wäre wahrscheinlich wie bei
Schneewittchen
ausgegangen. Nur ohne den Prinzen
und die sieben
Zwerge.“
„Schade. Jetzt werden wir nie
herausfinden, ob der
blaue Apfel vielleicht doch
ungiftig war.“
„Tja. Ich hatte damals auf jeden
Fall nicht den Mut
dazu.“
„Ja, und weiter. Was ist dann
passiert?“
„Ich habe die Äpfel untersucht.
Wie ich schon
sagte. Darüber habe ich mehrere
Artikel geschrieben
und sie dann in einer
wissenschaftlichen
Zeitschrift veröffentlicht. So
hat man das früher
gemacht und so wird es bestimmt
heute noch
gehandhabt. Bedenke, junges
Mädel, ich bin
Wissenschaftler. Ja, ja, genau so
hat man es damals
gemacht.“
„Und wie sind Sie Millionär
geworden?“
„Ganz einfach. Ich habe die Kerne
aus jedem dieser
Äpfel aufgehoben und im Labor
dann versucht,
neue kleine Apfelbäume mit blauen
Äpfeln zu
züchten. Das hat funktioniert.
Aus den Äpfeln
meiner Züchtung habe ich wieder
die Kerne
genommen und neue kleine
Apfelbäumchen mit
blauen Äpfeln gewonnen und so
ging das immer
weiter. Als ich merkte, die Äpfel
werden tatsächlich
immer blau, verkaufte ich diese
Entdeckung samt
den Kernen an eine
Lebensmittelfirma.“
„Aber Sie sagten doch eben, die
Äpfel wären giftig
gewesen. Zumindest dachten Sie
das.“
„Die ersten Äpfel waren es
bestimmt. Bei der
vierten Nachzüchtung habe ich
Versuche mit Ratten
und Mäusen gemacht. Die haben
überlebt. Und
nach unzähligen Nachzüchtungen
aus dem Kern der
Kerne der Kerne habe ich mich
dann tatsächlich
getraut und selbst mal in einen
dieser blauen Äpfel
gebissen. Und wie du siehst – ich
lebe. Irgendwann
war wohl die Farbe noch stark
genug, aber das Gift
war entwichen.
Die Firma hat meine Entdeckung
für sehr viel Geld
gekauft und mich damit
unglaublich reich gemacht.
Was daraus geworden ist, weiß ich
nicht und hat
mich damals auch nicht
interessiert. Das einzige,
was mir wichtig war, war, dass
mein Name und
sämtliche Fotos aus der Presse
verschwinden. Denn
ich hatte Angst vor Entführungen
und Betrügern.
Schließlich besaß ich zum ersten
Mal in meinem
Leben so unglaublich viel Geld.
Das wollte ich mir
auf keinen Fall wegnehmen lassen.
Außerdem fand
ich es nicht wichtig, dass mein
Name mit der Entdeckung
im Zusammenhang stehen sollte.
Wen
sollte es jemals interessieren?
Es war ja ganz alleine
meine Sache. Ich hatte den
Apfelbutzen gerettet und
später dafür gesorgt, dass er
überlebt. Also war das
ganz alleine mein Werk. Die
Entdeckung hatte ich
verkauft und denen sämtliche
Kerne und alle meine
Forschungsergebnisse gegeben.
Damit war die
Sache für mich erledigt. Es war
ja nicht so, dass die
mir dafür den Nobelpreis geben
wollten. Ich hatte ja
nichts Bahnbrechendes erfunden.
Es war eben nur
ein blauer Apfel, den ich
entdeckt hatte.“
„Ja, gut. Ich habe bis jetzt
alles verstanden. Sie
haben den blauen Apfel entdeckt
und ihn an eine
Firma verkauft. Ist alles gut
gelaufen für Sie. Aber
wieso haben Sie mir dann am
Anfang diese
Geschichte von Orpheus und
Eurydike erzählt?
Also ich verstehe nicht, was die
Geschichte von
Orpheus und Eurydike mit den
blauen Äpfeln zu
tun hat. Und vor allem, was hat
das mit mir zu tun
und dem Rat, dass ich anderen
Menschen mehr
vertrauen soll?“ […]