[…]
Es war dunkel um mich herum und
es
herrschte absolute Stille. Ich
wusste nicht, wo
ich war und warum alles so war,
wie es war.
Tot war ich definitiv nicht. Das
war aber auch
alles, was ich in diesem Moment
sicher
wusste. Die Stille ebbte ab und
ich hörte
Vogelgezwitscher. Ich bemerkte
einen
stechenden Schmerz in der Gegend
meines
Brustkorbs. Langsam fühlte ich
mich. Mein
Körper schien wie beim Auftauen
von rohem
Fleisch sein Blut wieder überall
zu verteilen.
Ich spürte meine Arme, meine
Beine und den
Schmerz. Ich war nun bei vollem
Bewusstsein.
Es hatte einen Autounfall
gegeben. Ich
erinnerte mich
wieder.
***
Zwanzig Tage vorher. Mein
elektronischer
Terminkalender erinnerte mich an
das Treffen
mit meinem künftigen neuen
Mandanten, dem
Bestattungshaus Coffin. Herr
Frederik Coffin,
der Inhaber, hatte mich eine
Woche zuvor
angerufen und wollte mich als
seinen neuen
Steuerberater verpflichten. Es
war sehr
wichtig und eilig für ihn, weil
sich das
Finanzamt mit einer
Betriebsprüfung bei ihm
angemeldet hatte. Die Prüfung an
sich schien
nicht das Problem zu sein.
Sondern, dass er
Geld im Tresor liegen hatte,
dessen Herkunft
er dem Finanzamt lieber
verschweigen wollte.
Neugierig auf diesen neuen
Mandanten ließ
ich mich auf das Treffen ein und
machte mich
rechtzeitig auf den Weg von Köln
in Richtung
Eifel. Auf dem großen Parkplatz
vor dem
Bestattungshaus quetschte ich
mein Auto
zwischen die beiden Leichenwagen.
Sonst
waren alle Plätze
belegt.
Bei dem scheint das Geschäft ja
gut zu laufen,
so wie hier alles voller Autos
steht, ging mir
durch den Kopf, als ich die
Eingangshalle
betrat.
Am Empfangstresen wurde ich von
einer Mit-
arbeiterin aufgehalten. Ich
sollte noch einen
Augenblick warten.
[...]
Dann kam ein junger Mann auf mich
zu. Er
streckte mir die Hand entgegen
und ich konnte
mich nicht vor dieser
Höflichkeitsgeste
drücken. Offensichtlich erkältet
war ich nicht.
Mir lief auch nicht die Nase und
ich hatte
keinen schlimmen Husten. Also
musste ich
ihm wohl oder übel die Hand
geben.
„Guten Tag. Herr Coffin möchte,
dass ich Sie
in sein Büro begleite.“ meinte er
freundlich
und schob mich vor sich her in
Richtung eines
langen Flures [...]. Dann
drängelte er
sich doch noch an mir vorbei und
öffnete die
zweite Türe auf der rechten
Seite.[...]
Diesen Herrn Coffin hatte ich mir
ganz anders
vorgestellt. Sie kennen das
sicherlich. Von der
Stimme am Telefon hat man einen
Eindruck
und bastelt sich dann automatisch
ein Gesicht
und eine Statur dazu. Ich hatte
mir einen
korpulenten, kleinen Mann
vorgestellt. Aber
er war das genaue Gegenteil.
Hager und groß.
„Danke.“ Herr Coffin winkte dem
jungen
Mann, der immer noch in der
offenen Tür
stand zu und deutete mir an, doch
bitte Platz
zu nehmen. Der junge Mann hatte
inzwischen
die Türe von außen geschlossen.
Ich war nun
mit diesem sonderbaren Menschen
alleine.
„Und? Was haben Sie gesehen?“ war
seine
erste Frage an
mich.[...]
Weil er auf Höflichkeiten
verzichtete und
direkt zur Sache gekommen war,
antwortete
ich auch ebenso
direkt.
„Er hat nur noch zwanzig Tage. Am
31. März
wird es passieren. Ein
Autounfall. Er wird
Ihren Leichenwagen schrotten.
Totalschaden.
Hat er Familie?“
„Die nennt man
Überführungswagen.“ belehrte
er mich. Dann ergänzte
er.
„Ja, er hat eine Ehefrau. Aber
keine Kinder.“
„Wie alt ist er eigentlich?“
hörte ich mich
fragen.
„Er ist neunundzwanzig Jahre
alt.“
„Aha.“ murmelte ich.
„Und? Werden Sie für mich
arbeiten?“ fragte
mich Herr Coffin. Dabei schaute
er mich an,
als ob ein „Nein“ gar nicht zur
Auswahl stand.
Deshalb nickte ich nur.
[...]
„Dann sind wir uns also einig?“
[...]
„Dann werde ich Sie jetzt
herumführen und
Sie können hier jeden persönlich
kennenlernen.
Geht das so? Reicht es, wenn Sie
allen
die Hand geben?“
Ich nickte zustimmend. Oh, wie
furchtbar. Es
würde schlimm werden. Wie ich
diese Gabe
hasste … .
***
Alles fing mit einem törichten
Wunsch an. Ich
wollte eine Gabe haben. Also
begann ich, abends
vor dem Zunettgehen meine
Meditations-CD anzuhören
und mir einzureden, eine
besondere Gabe zu haben,
mit der ich Menschen beeindrucken
und auch
viel Geld machen
könnte.[...]
So stellte ich sie mir vor –
meine nahe Zukunft.
Reich und vielgeliebt, quasi
heißbegehrt wegen
meiner neuen Gabe.
In dem Begleitbuch zur CD stand
noch drin,
das sollte man so einige Wochen
intensiv machen
und der Wunsch würde sich dann
von alleine erfüllen.
Natürlich sollte man auch fest an
das glauben,
was man sich wünschte und
vorstellte. Und
wenn man sich dabei noch richtig
emotional
reinhängen würde, käme der Erfolg
noch
schneller. Ich sage Ihnen, Sie
können mich für
einen naiven Typen halten. Aber
was hat man
denn schon zu verlieren? Und wenn
auch nur
die Entspannung half. Immerhin.
Meinem
Körper würde dies bestimmt gut
tun.
Drei Wochen später suchte ich den
Antrag für
die Krankenkasse. Meine Frau und
ich wollten
eine Woche Aktivurlaub machen mit
allem
Drum und Dran. [...]
Und dafür hatte ich vor einer
Woche ein
Formular ausgefüllt. Nun wollte
ich es der
Krankenkasse zufaxen. Ich hing
also im
Wohnzimmer unserer kleinen
Mietwohnung
über dem Couchtisch gebeugt und
durchsuchte
den Stapel Papiere, der dort lag.
Auf einmal
traf es mich wie ein Blitz. Wie
im Film sah ich
einen alten Mann, der zwischen
den Pflanzen
auf einer großen Bananenplantage
hin- und herlief.
Dann hatte ich irgendwie die
Eingebung, diese
Plantage sei auf den Bahamas und
der alte
Mann sei ich. Dann sah ich, wie
der alte Mann,
also ich, sich in einen bequemen
Baststuhl hinsetzte
und friedlich an Herzversagen
starb. Ich war
88 Jahre alt geworden. Der Film
vor meinem
inneren Auge war zu Ende. Ich
stand wieder
in meinem Wohnzimmer und halte –
oh
Wunder – den gesuchten Antrag für
die
Krankenkasse in meiner Hand. Mein
Gott!
durchfuhr es mich. Was war das
denn
gewesen? War ich betrunken? Nein,
ganz
sicher nicht. Himmel, was war ich
erschrocken.
Vor allem erschreckte mich das
Gefühl, dass es
sich so ehrlich und wirklich
angefühlt hatte.
Ich hatte mich selbst wirklich
gefühlt in dieser Vision
oder als was man das auch immer
bezeichnete.
War das nun meine
herbeigewünschte Gabe?
Ich weiß jetzt also wann ich
sterbe, wo und an was.
[...] Der erste Schreck war
vorüber. Ich war wieder
ganz bei mir. Ich schenkte dem
Vorfall keine
weitere Bedeutung. Der
Zuschussantrag war
gefunden. Unser Urlaub also
gerettet. Ich
faxte ihn schnell durch und ging
den Rest des
Tages meiner Arbeit nach.
[…]
***
Die Tage vergingen. Es stand eine
Feier an.
Diesmal etwas wirklich Großes und
sehr
offiziell. Die Kanzlei von Molli,
also meine
ehemalige Kanzlei, wurde 25 Jahre
alt.
Wir standen beide im Bad, machten
uns
schick und redeten im Grunde
belangloses –
ob wohl alle kommen würden, von
den
ehemaligen Kollegen? Bald kam das
Gespräch
auch auf den Seniorchef. Er hatte
die Kanzlei
damals gegründet und später dann
seine
beiden Partner ins Boot geholt.
Heute würde
er endlich in seinen
wohlverdienten Ruhestand
gehen und seinen beiden
jüngeren
Partnern die Kanzlei
überlassen.
Molli meinte, er sollte jetzt
wirklich den Absprung
schaffen, sonst würde der liebe
Gott es
für ihn erledigen. Schließlich
hatte er schon
zwei Herzinfarkte hinter sich und
stand unter
Dauerbeobachtung seines
Kardiologen.
Manchmal ist Molli einfach
herzerfrischend
deutlich.
***
Natürlich begrüßten wir als
erstes den alten
Firmenchef und Kanzleigründer.
Der mit den
Herzproblemen. Nachdem ich ihn
begrüßt
hatte, Hände geschüttelt,
freundschaftliches
Schulterklopfen, hatte ich wieder
so eine
Vision. Ich begriff, dass diese
Visionen jedes
Mal mit einem gewissen
Erschrecken
einhergingen. Ich zuckte zwar
nicht äußerlich,
hatte aber so ein inneres Rucken,
welches
mich dann jedes Mal durchfuhr.
Auch diesmal
war meine Vision nur kurz. Aber
ich fühlte
etwas und konnte etwas sehen.
Zwei Jahre
hatte er noch. Er starb an einem
Herzinfarkt
und es sah ziemlich schmerzhaft
aus. Mitten
im Sommer. Die genaue Zeit konnte
ich nicht
erkennen. Auf jeden Fall war es
sonnig und
warm und die Bäume waren grün. Es
war auf
einer Familienfeier. Draußen im
Garten wurde
gefeiert. Der Kaffeetisch war
gedeckt. Es gab
Erdbeerkuchen und Sahnetorte. Der
Seniorchef
erlebt sein letztes Stündlein
alleine in der
Küche.
Da wurde ich am Arm gepackt.
Molli zog an
meinem Jacketärmel. Jemand wollte
meine
Hand schütteln. Mich begrüßen.
Ich war
wieder da. In der Realität. Es
sollte die
Jubiläumsfeier der Todestrips
werden. Es war
furchtbar. So gut wie bei jeder
Person, der ich
die Hand gab, eine
entgegengestreckte Hand
schüttelte, jemanden auf die
Schulter klopfte
oder sogar freundschaftlich
umarmte – ich
bekam eine Vision nach der
anderen. Mir
wurde übel. Ich sagte Molli
Bescheid, dass ich
gehen wollte. Mir war so
schlecht. Irgendwie
sogar körperlich. Aber es war
eher eine
geistige Erschöpfung und
Überreizung meiner
Sinne. Ich verzog mich auf die
Toilette. Da
saß ich nun mit Horrorvisionen
vom Tod von
Leuten, die ich gut kannte. Die
ich mochte,
die ich liebte. Mit denen ich
Unzähliges erlebt
hatte. Lustige Feiern in der
Kanzlei, Zuprosten
mit Sekt, wenn es uns mal wieder
gelungen
war, eine Betriebsprüfung des
Finanzamtes
kleinzumachen oder wenn unsere
Kanzlei vor
dem Finanzgericht gewonnen hatte.
Geburten,
Taufen, Eheschließungen,
Scheidungen, Grillfeiern,
lustige Abende, tolle
Nachmittage,
anstrengende Fälle, bei denen wir
bis in die
Nacht gearbeitet hatten, eilige
Mandanten,
nette Mandanten, grausige
Mandanten. So
bunt, wie das Leben eben ist.
Tja, es mag
zynisch klingen, aber genauso
bunt waren
auch die Todesvisionen.
Todesvision, wie sich
das anhört. Nennen Sie es
Sterbefilme, nein
besser Sterbefilmchen. Sie
dauerten jeweils
höchstens ein paar Sekunden. Und
das
Universum war genau. Bei jeder
Vision erfuhr
ich das Wann, das Wie und das Wo.
So
langsam dämmerte mir, dass diese
Visionen
ein System hatten. Sollte mir das
etwas sagen?
Ich hatte das Universum um eine
Gabe
gebeten. Ja, ich weiß. So etwas
sollte man
nicht tun. Ich wollte eine Gabe,
so etwas wie
Lottozahlen vorhersagen oder so
ähnlich.
Eben um schnell an viel Geld zu
kommen. Ist
das so verwerflich? Das wollen
doch alle
Menschen oder etwa nicht? Mir
hätte auch
eine gute Marketingidee gereicht,
um mehr
Mandanten zu bekommen. Oder dass
jeden
Tag mindestens zwei neue
Mandanten einfach
so bei mir anrufen und mir
regelrecht ihre
Mandantschaft aufdrängen. Und
natürlich,
dass ab sofort alle zügig ihre
Rechnungen
begleichen würden. So etwas in
der Richtung
hatte ich mir vorgestellt. Denn
wenn ich auch
seit zwei Jahren selbstständig
war, war ich auf
Mollis Gehalt aus der Kanzlei
angewiesen, um
die laufenden monatlichen Kosten
zu
stemmen. So rosig lief mein
Geschäft nämlich
noch lange nicht. Also passen Sie
auf, was Sie
sich wünschen. […]