[…]
Hinter ihm schloss sich mit einem
lauten Brumm-
geräusch das überdimensionierte
graue Gefängnistor.
Er hatte die vollen sieben Jahre
abgesessen. Und das
trotz guter Führung. Man wollte
ihn keinen Tag früher
entlassen – dafür hatten sie
schon gesorgt. Als ob sich
seine Wut nach dieser Zeit in
Luft auflösen würde. Sie
hatte aber nur überdauert, wie
ein Pest-Virus.
Tiefgekühlt in seinem Herzen und
jederzeit wieder
auftaubar. Und jetzt war dieser
Zeitpunkt gekommen.
Sie würden sich in Acht nehmen
müssen. Aber diesmal
würde er es geschickter
anstellen. Über seinen
Racheplan hatte er sieben lange
Jahre nachgedacht.
Jetzt wurde es Zeit, ihn
umzusetzen.
***
Luna schloss die Wohnungstüre
auf. Ganz vorsichtig
und langsam öffnete sie die Tür.
Um zu verhindern,
dass die Erinnerungen, die in
dieser Wohnung lebten,
still und heimlich durch den
kleinen Spalt, der sich
öffnete, hinausströmen könnten.
Dann quetschte sie
sich rasch in die Wohnung. Hier
roch es wie damals.
Die Türe hatte sie schnell wieder
geschlossen. Die
Erinnerungen begrüßten sie. Hier
war sie wieder das
kleine Mädchen, das an Regentagen
stundenlang aus
dem Fenster starrte. Hinein in
den Hof. Und über die
Dächer der Nachbarhäuser. Sie
konnte den Leuten aus
der Glückskeks-Manufaktur
gegenüber bei der Arbeit
zusehen. Denn diese hatte ein
großes ausladendes
Glasdach. Irgendwie schien dort
immer jemand zu
arbeiten. Von oben hatte man
einen guten Blick in die
Keksfabrik. Einer machte den
Teig. Es war jedes Mal
ein spannender Augenblick, wie
der riesige Teigkloß
aus der Rührmaschine genommen
wurde, um ihn dann
mit einem scharfkantigen Etwas zu
köpfen und zu
vierteilen. Sie litt jedes Mal
mit, wenn der arme
Teigkloß brutal aufgeschnitten
wurde. In viele kleine
Teigklumpen. Dann wurden sie
ausgerollt und man
stach ihnen runde kleine
Teigscheibchen aus ihrem
Körper. Nun kam der interessante
Teil. Jemand, von
dem sie nur den Hinterkopf sehen
konnte, schnitt
den ganzen Tag die Sprüche, die
später in den Teig
kamen, aus und rollte sie
zusammen. An diesem Tisch
wurde jeweils ein
zusammengerollter Spruch in das
Teigscheibchen gelegt und eine
fleißige Hand drückte
und rollte mit geübten Fingern
den Teig mit dem
Spruch zusammen zu einem fertigen
Glückskeks.
Anschließend kamen sie zum
Ausbacken in den Backautomat.
Wenn es regnete, war das Zusehen,
wie aus
Teig ein Glückskeks wurde, eine
wirklich schöne
Sache. Es lenkte von dem
schlechten Wetter ab und
machte gute Laune. Sie hatte sich
schon oft gefragt, ob
sich der Sprüche-Ausschneider
jemals Gedanken
darüber machte, wie hinterher die
Kunden auf seine
Sprüche reagieren würden? Ob er
all diese Sprüche
jemals gelesen
hatte?
Das Wasserrauschen der Klospülung
aus der Nach-
barwohnung riss sie aus ihren
Erinnerungen. Für einen
wirklich nur kurzen Augenblick
wusste sie nicht wo sie
war. Dann kam ihr Bewusstsein mit
voller Traurigkeit
zurück. Ihre Großmutter war
verstorben und ihr Bruder
und sie hatten die Wohnung
geerbt. Sie waren von ihr
großgezogen worden, nachdem bei
einem üblen
Autounfall ihre Eltern ums Leben
gekommen waren.
Ihr Bruder hatte kein Interesse
mehr hier zu wohnen.
Endlich nach wirklich harten
Jahren, die er im Grunde
nur im Drogenrausch erlebt hatte,
war ihm der
Absprung gelungen und er schien
clean zu sein.
Zumindest wollte sie es glauben.
Sie wollte für ihn
keine Schmerzen mehr empfinden
und hatte in den
letzten zwei Jahren seine
Anwesenheit in ihrem Leben
völlig ausgeblendet. Jetzt wo nun
ihre Großmutter tot
war, musste sie sich wenigstens
nur noch gelegentlich
mit ihm auseinandersetzen. Sie
war froh, dass er nicht
mehr hierher zurückwollte. Seiner
Meinung nach war
diese Wohnung verflucht und hatte
ihn in den
Drogenwahn getrieben. Als ob eine
Wohnung einen
Menschen zum Drogenkonsum
animieren könnte. Mit
diesen Gedanken im Kopf, ging sie
die Post der letzten
Tage durch, die der Hauswart
netterweise auf die
Kommode in der Diele gelegt
hatte. Großmutter war
im Krankenhaus gestorben. Leider
alleine. Sie war zu
spät benachrichtigt worden. Als
sie endlich den Anruf
bekam, ihre Großmutter würde im
Krankenhaus liegen
und es ginge ihr wirklich sehr
schlecht, hatte sie sich
sofort auf den Weg gemacht. Nur
dauerte es eine
Weile, um von Kanada wieder
zurück nach Hause zu
kommen. Deshalb war sie zu spät
gekommen. Das
machte sie traurig. Kein Mensch
sollte alleine sterben.
Und ihre geliebte Großmutter
schon mal gar nicht. Das
hatte sie nicht verdient. Aber
ändern konnte sie es auch
nicht mehr. […]