[…]
„Und jetzt höre mir zu. Okay?
Einfach nur zuhören. Ich
werde dir jetzt eine Geschichte
erzählen.“ Er ließ sie
los. Sie setzten sich auf eine
Parkbank und Josh fing an
zu erzählen.
V. Kapitel
„Also, es war vor vielen Jahren,
so erzählte man sich, in
einem kleinen Bauerndorf in
Transsylvanien, dass ein
Bauer hungrig und traurig auf
sein kleines Feld hinausging.
Er wollte sich an der dicken,
starken Eiche, die
neben seinem kleinen Feld stand,
erhängen.
Der Bauer hatte die dritte
Missernte in diesem Jahr
hinter sich. Er hatte eine Frau
und fünf Kinder. Er war
am Ende seiner Kräfte. Das letzte
Brot hatten sie alle
am Vorabend aufgegessen. Die
Speisekammer war leer,
in der ganzen Hütte gab es nichts
mehr zu Essen und
Geld hatten sie auch keines mehr.
Alles war leer und der
arme, hungrige Bauer sah im
Sterben seinen letzten
Ausweg. Er wusste, dass es nicht
fein war, seine Frau
und die Kinder zurückzulassen.
Aber er wollte so nicht
mehr weiterleben. Und er fand,
dass dieser Freitag ein
guter Tag zum Sterben
sei.“
„Wieso gerade ein Freitag?“
fragte Sandra dazwischen.
„Ich habe gesagt zuhören! Nicht
Fragen stellen, einverstanden?
Josh schaute sie für eine Sekunde
wirklich
böse an.
Sandra verstummte nach diesem
Blick sofort.
„Der Bauer nahm sich den Strick,
den er mit aufs Feld
genommen hatte und warf ihn über
den dicken Ast der
Eiche. Dann stellte er sich unter
diesen Ast und begann
die Schlinge zu knoten, mit der
er sich erhängen wollte.
Als er unter den Ast trat, hörte
er jemanden schreien. Es
war ein kleiner Troll, der sich
in der Wurzel der Eiche
verklemmt hatte. Er hing dort
schon zwei Tage fest und
hatte kaum noch Kraft, um nach
Hilfe zu rufen. Weil
aber der Bauer aus Versehen auf
den kleinen Troll
getreten war, rief dieser mit
allerletzter Kraft um Hilfe.
Weil er so viel gerufen hatte und
so eingeklemmt war,
war er sichtbar geworden und der
Bauer sah ihn ganz
deutlich zwischen den
Wurzelschlingen feststecken. Der
Bauer war ein gutmütiger Mensch,
der keinem wehtun
konnte, vergaß in dem Augenblick,
dass er sich aufhängen
wollte und half dem Troll aus dem
Wurzelwerk
der großen Eiche. Als er ihn
befreit hatte, fragte ihn der
Troll, was er an der Eiche
gewollt hatte. Der Bauer
sagte ihm, dass er sich erhängen
wollte, weil er nichts
mehr zu Essen hatte und dass es
ihm um seine Frau und
die fünf Kinder sehr Leid tat.
Aber auch sie würden in
den nächsten Tagen vor Hunger
sterben. Der Troll hatte
Mitleid mit dem Bauer und wollte
sich bei ihm für seine
Hilfe bedanken. Also sagte er zum
Bauern. „Ich schenke
dir einen Geldsegen, mit dem du
aber nur Gutes tun
darfst. Sobald du dich damit auf
die faule Haut legst,
selbstsüchtig oder geizig wirst,
ist es mit dem
Geldsegen vorbei. Außerdem wirst
du noch einen
Jungen bekommen, der den
Geldsegen fortführt, wenn
du nicht mehr lebst. Zum Zeichen,
dass dein Junge den
Geldsegen erhalten wird, wirst du
am Tag seiner Geburt
einen Goldtaler am Fuße der Wiege
vorfinden. Wenn du
den Geldsegen missbrauchst hast,
wirst du bei der
Geburt keinen Goldtaler
vorfinden. Aber.....“ sagte der
Troll. „......bei dir, Bauer,
mache ich mir keine Sorgen.
Und nun lauf nach Hause und sorge
dich um deine
Familie. Sie haben dich schon
vermisst.“
Der Bauer wollte schon gehen, da
hielt ihn der Troll an
seinem Rock fest und flüsterte
ihm zu.
„Und weil heute Freitag ist, wird
zur Erinnerung an
deine Hilfe der Geldsegen
freitags immer besonders
groß sein. Und nun geh! Aber hüte
dich, davon jedem
zu erzählen! Die Menschen sind
oft böse und neiden
einander sehr.“
Der Bauer freute sich über das,
was der kleine Troll gesagt
hatte, verstand aber nichts
davon. Ziemlich durcheinander
kam er bei seiner Familie wieder
an. Alle
saßen traurig und hungrig um den
großen Holztisch, der
mitten in der Stube
stand.
„Ich habe einen Troll getroffen.“
meinte der Bauer, in
die traurige Stille hinein. Noch
nicht mal seine Kinder
sagten darauf etwas. Alle waren
schon so hungrig, dass
sie nicht mehr die Kraft hatten
zu sprechen.
Dann drückte es dem Bauer im
Bauch. Es drückte und
rumorte ganz
fürchterlich.
„Ich geh dann mal hinters Haus.“
meinte er nur kurz
und eilte schnell hinaus zum
Donnerbalken. Damals
hatten die Leute noch nicht so
fortschrittliche Toiletten.
Was dann genau passierte, weiß
man nicht. Auf jeden
Fall kam der Bauer mit
Goldstücken vom Donnerbalken
zurück. Wieder in der Stube
zeigte er das Geld
seiner Frau und den Kindern. Sie
freuten sich alle sehr.
Weil er der Kräftigste war, ging
er rasch in die Stadt
zum Einkaufen. Er kaufte so viel
er tragen konnte auf
dem Markt. Dann gab es für die
Familie des Bauern ein
großes Festmahl.“
„Ein Märchen. Oh, wie schön. Und
was hat das jetzt mit
dir zu tun?“ fragte Sandra
dazwischen, als Josh diese
kleine Pause machte.
„Es geht noch weiter. Höre
einfach zu.“ Sandra nickte
zustimmend. So langweilig war es
ja nun auch wieder
nicht, was ihr Josh da erzählte.
Nur irgendwie begriff
sie die Zusammenhänge noch nicht.
[…]
„Der Bauer hatte noch ganz viele
Geldstücke vom
Donnerbalken zurückgebracht. Aber
freitags immer
besonders viele. Und tatsächlich
hat er später noch
einmal einen Sohn bekommen. Bei
der Geburt lag ein
ganz besonders großer Goldtaler
am Fuße der Wiege.
So, wie es der Troll versprochen
hatte. Die Gabe wurde
von Generation zu Generation
weitergegeben. Alle
hielten sich an die Vorgaben des
Trolls, das Geld nicht
zu verplempern, damit nicht zu
geizen oder es nur für
sich zu benutzen und so lag bei
jeder Geburt jedes
erstgeborenen Sohnes ein
besonders großer Goldtaler
am Fuße der jeweiligen
Kinderwiege. Wegen dieser
Gabe wurden alle Kinder zu Hause
geboren. Wie hätte
die Familie das Geheimnis
bewahren sollen, wenn die
Geldscheißerkinder in einem
Krankenhaus zur Welt gebracht
worden wären? Und was glaubst du,
wie hätte
das Krankenhauspersonal reagiert,
wenn mitten im
Kreißsaal am Fußende des Tisches
auf einmal ein Goldtaler
gelegen hätte? Aus purem Gold.
Verstehst du jetzt,
Sandra?“
„Oh, mein Gott! Das ist ja
Wahnsinn!“ Sandra war
plötzlich ganz
aufgeregt.
„Aber – aber wenn du doch so
reich bist, warum lebst
du dann auf der Straße, als
Penner? Warum bist du nicht
zu Hause bei deiner Familie?“
Erschrocken schaute sie
Josh an.
„Oder haben die dich vielleicht
rausgeworfen?“ Sandra
redete furchtbar schnell und
hektisch auf ihn ein. Sie
fand das alles so unglaublich.
Vielleicht erzählte er auch
nur völligen Blödsinn, um sie zu
beeindrucken? Oder
um sich wichtig zu machen? Josh
schwieg, je länger
Sandra ihn bedrängte. Dann stand
er auf und ging ein
paar Schritte. Er begann vor der
Parkbank hin und her
zu laufen.
„Weißt du Sandra? – nein, ich
versuche es anders.
Kannst du dir vorstellen, dass
reich zu sein auch eine
Last sein kann? Eine ganz schwere
Last, die wie ein
festgeklebter Sandsack Tag und
Nacht auf deinem
Rücken liegt. Die dich erdrückt
und dir keine Luft zum
Atmen lässt.“ Sandra saß auf
dieser Parkbank und
schaute
verständnisvoll.
„Ich glaube, ich kann das
verstehen. Das ist wie mit
meiner Arbeit.“ meinte sie
mitfühlend.
„Ja, genau, ein guter Vergleich.
Du liebst auch deine
Freiheit und möchtest nur das
tun, was dir Spaß macht.
Es geht aber nicht, weil du
arbeiten musst, um Geld zu
verdienen, um davon dein Leben zu
finanzieren. Ich
hatte genügend Geld, durfte damit
aber nicht verschwenderisch
umgehen, es aber auch nicht
horten und
ich hatte die Verpflichtung Gutes
zu tun. Der Reichtum
war mit Auflagen verbunden. Und
diese Auflagen haben
mich so eingeklemmt, wie dich
deine Arbeit.“
„Lag bei deiner Geburt auch so
ein Goldtaler vor deiner
Wiege?“ lenkte Sandra das Thema
ein wenig um. Josh
sagte nichts. Er nickte kurz mit
dem Kopf.
„Was ist mit dem Goldtaler
passiert? Und war das wirklich
ein Taler, so aus purem Gold, wie
du erzählt
hattest? Ich meine, das gibt es
doch eigentlich nicht?“
Sandra war immer noch nicht so
recht überzeugt von
Joshs Geschichte.
„Also, bei meiner Geburt lag auch
wie bei all den
anderen erstgeborenen Söhnen ein
Goldtaler auf dem
Fußboden vor meinem Bettchen. Ja,
er war aus purem
Gold. Und es war ein Taler, so
wie man ihn vor fünfhundert
Jahren benutzt hatte...“ Josh
holte gerade Luft,
um weiter von dem Geburtstaler zu
sprechen, als er
innehielt.
„Was ist?“ Sandra schaute zu
Josh, der den Parkweg
entlang sah. Dann drehte er den
Kopf auf die Seite, als
ob er etwas hören
würde.
„Was ist denn?“ fragte Sandra
noch einmal.
„Da war jemand. Im Gebüsch. Da
war jemand im Gebüsch,
hier hinter der Parkbank und hat
uns belauscht.“
„Was?“ Sandra schaute suchend um
sich. Sie sah
niemanden.
„Ich glaube, du siehst
Gespenster. Du hast ja nur einen
Grund gesucht, um nicht weiter
erzählen zu müssen,
stimmts?“
„Quatsch. Wenn ich es dir sage,
dann stimmt das auch.
Da war jemand. Ganz sicher.“ Josh
hatte keine Lust
mehr von seiner Familie zu
sprechen, vor allem nicht,
wenn ihn dabei jemand Unbekanntes
belauschte.
„Komm, wir gehen.“ entschied er
lautstark und zog
Sandra von der Parkbank. Stumm
liefen sie nebeneinander
her. Sandra vermied es Josh zu
berühren. Sie
hatte sich in ihn verliebt, das
wusste sie. Aber ob er
auch so empfinden würde, wusste
sie nicht. Deshalb
wollte sie lieber leiden, als es
ihm zu gestehen. Sie hatte
schon genügend schlechte
Erfahrungen gesammelt. Entweder,
er würde sich bald in irgendeiner
Weise ihr zu
erkennen geben, dass er sie auch
mochte, oder es würde
sich nichts ergeben. Und bis
dahin wollte sie einfach
abwarten. Obwohl ihr das schon
jetzt sehr schwer fiel.
Er lief so dicht neben ihr. Es
wäre ein leichtes gewesen,
eine scheinbar zufällige
Berührung zu arrangieren. Und
diese Geschichte. Sie war nett
gewesen, aber sicherlich
frei erfunden. Er war ein Penner.
Daran änderte auch
nichts die Tatsache, dass er das
Wochenende bei ihr
verbracht hatte. Wer weiß, wie
lange er schon auf der
Straße lebte? Da hatte man viel
Zeit, sich solche
Geschichten auszudenken. Er wäre
Josh Grey! So ein
Blödsinn! Das hatte er sich
bestimmt ausgedacht. Einen
Ausweis hatte er ja nicht bei
sich. Also konnte er ihr in
Ruhe etwas vormachen. Sie könnte
ihm nicht einmal
das Gegenteil beweisen. Dass die
Familie Grey reich
war, wusste jeder. Das war so
bekannt, wie die Tatsache,
dass es in England die Queen gab.
Jetzt tat es ihr
leid, dass Illustrierte und die
billigen Zeitungsblättchen
nicht zu ihrem Lesestoff
gehörten. Leute, die so etwas
lesen, wissen immer ganz genau
über die Reichen und
Schönen Bescheid. Genau diese
Lektüre hatte sie immer
gern überblättert oder
ausgelassen. Das rächte sich nun.
Sie kannte aber auch keinen, den
sie fragen konnte.
Sandra biss sich kurz auf die
Lippe. Das war echt
schade, dass sie Joshs
Erzählungen nicht überprüfen
konnte. Und dann die Sache mit
dem geheimnisvollen
Lauscher. So ein ausgemachter
Blödsinn. Er litt wohl
schon an leichten
Wahnvorstellungen.
[…]